Codekunst

Bei meinen Recherchen zum Literarischen Codequartett kam mir der Gedanke, Stilbezeichnungen aus der Malerei oder der Architektur auf Code anzuwenden. Und tatsächlich sind die Beschreibungen oftmals von geradezu erschreckender Treffsicherheit bei der Klassifizierung von Code:

Art Brut

Hervorragend geeignet, um die meisten Open Source Projekte zu beschreiben:

Art Brut ist eine Bezeichnung für autodidaktische Kunstwerke, die abseits des etablierten Kunstsystems entstanden sind: zumeist von Geisteskranken, Medien, Gefangenen, Außenseitern oder einfach gesellschaftlich Unangepassten.

Abstrakter Expressionismus

Für die ganzen ad-hoc Provisorien da draußen:

Allen Ausprägungen des Abstrakten Expressionismus ist gemeinsam, dass das Gefühl, die Emotion und die Spontaneität wichtiger sind als Perfektion, Vernunft und Reglementierung.

Tachismus

Auch für die Quick Hacks und den Perl-Code da draußen gibt es einen Begriff:

Im Tachismus versucht der Künstler Empfindungen und das Unbewusste spontan und unter Vermeidung jeder rationalen Kontrolle durch Autrag von Farbflecken auf eine Leinwand darzustellen.

Suprematismus

Und hier ein schöner Begriff für djb-Code:

Eine von Gegenstandsbezügen befreite Kunst stellt die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung 'höchster' menschlicher Erkenntnisprinzipien. Zu den Hauptwerken des Suprematismus zählen die von Malewitsch geschaffenen Gemälde Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1913) [1], Rotes Quadrat (1915), Weißes Quadrat auf Weißem Grund (1919).

Barock

Code mit Tonnen von überflüssigen "vielleicht braucht das ja mal jemand" Funktionen, besonders in irgendwelchen metastasierenden Klassenbibliotheken anzutreffen:

Derart kam es zustande, dass das Wort Baroco dazu diente, alles Wild-Verworrene, Unklare, Wunderliche und Nutzlose zu kennzeichnen
[...]
Das Eigenschaftswort barock steht heute auch für verschnörkelt, überladen und vereinzelt für seltsam-grotesk

Bauhaus

Begriff für handwerklich soliden Code:

Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! [...]
Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! ...
Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.

Biedermeier

Code von frischen Uni-Abgängern, mit Kästchen-Kommentaren mit Beschreibungen von Ein- und Ausgaben und (falscher) Invariantenlisten:

Der Mensch des Biedermeier wird als entpolitisierter, von naiv-obrigkeitstreuen Bestrebungen und Harmoniesüchteleien getriebener Kleinbürger karikiert

Dadaismus

Sogar für Brainfuck gibt es einen Begriff:

Der Dadaismus stellte die gesamte bisherige Kunst in Frage, indem er ihre Abstraktion oder ihre Schönheit durch z.B. satirische Überspitzung zu sinnlosen Unsinnsansammlungen machte, z.B. in Unsinnsgedichten

Naturalismus

Fummelcode, der irgendwelche unrelevanten Spezialfälle abzubilden versucht, wie z.B. ein Kalender mit Support für den Maya-Kalender:

Naturalistische Künstler versuchen eine möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit. Dabei wird versucht mit exakten naturwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten, um so zu einer umfassenden Erkenntnis zu gelangen.

Höhlenmalerei

Fossiler Code in heute nicht mehr gebräuchlichen Dialekten von Programmiersprachen:

Als Höhlenmalerei, Höhlenzeichnung oder Höhlenkunst werden bildliche oder grafische Darstellungen an den Wänden von Höhlen aus prähistorischer Zeit, meist der Steinzeit, bezeichnet. Diesen Kunstwerken konnten wertvolle Hinweise über Kultur und Glauben der Steinzeitmenschen entnommen werden.

Impressionismus

Code, bei dem es darum ging, daß es so aussieht, als sei das Problem gelöst, aber es ist es nicht. Z.B. typische Microsoft-Bugfixes, mit "if (strcmp(input,exploit_string))".

Die Maler des Impressionismus versuchten einen Gegenstand in seiner augenblicklichen, zufälligen Erscheinungsform zu erfassen statt in seiner inhaltlichen Bedeutung.

Jugendstil

Organisch gewachsener Code ohne erkennbare Struktur:

Äußerlich kennzeichnende Elemente des Jugendstils sind dekorativ geschwungene Linien sowie flächenhafte florale Ornamente und die Aufgabe von Symmetrien.

Klassizismus

Code in angestaubten Programmiersprachen wie LISP und K&R C.

Gegenüber dem vorangegangenen Rokoko zeichnet sich der Klassizismus durch eine Rückkehr zu geradlinigen Formen mit einer stärkeren Anlehnung an klassisch-antike Formen aus.

Kubismus

Code, bei dem es für jede Aufgabe 10 verschiedene Methoden gibt; z.B. perl oder der Linux-Kernel:

Der Kubismus war ein Aufstand gegen die realistische Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sein zentrales Problem war die Überwindung der Perspektive, die die Gegenstände nur von einem Blickwinkel aus zu erfassen vermag. Demgegenüber versuchten sie, den Gegenstand in verschiedene Sichtweisen aufzugliedern (Analytischer Kubismus) und eine Synthese aus verschiedenen Blickwinkeln zu schaffen (Synthetischer Kubismus).

Manierismus

Nur für Insider verständlicher Code:

Allgemein ist der Manierismus gekennzeichnet durch eine Abkehr von den harmonischen und ausgewogenen Kompositionen der Hochrenaissance, die zu einer gesuchten, gezierten, kapriziösen und spannungsgeladenen Manier führte, deren allegorische und enigmatische Darstellungen nur von eingeweihten Kennern (besonders des aufstrebenden Bürgertums) verstanden werden sollten.

Naive Kunst

"Mein erstes Programm". Nicht mit Fehlern rechnender Code.

Sammelbezeichnung für künstlerische Arbeiten von Autodidakten, vorwiegend in der Malerei, mit betonter einfacher, unbekümmerter, phantasievoller Wahl der Bildmotive. Die Darstellungen geben häufig die persönlichen Wunschträume der Urheber wieder. Die Naive Kunst widerspiegelt häufig die sogenannte "heile Welt".

Pointillismus

Code, der erst aus der Ferne verständlich wird; Wrapper-Wüste. Elemente hiervon sind in allen großen Klassenbibliotheken und Middlewares zu finden.

Die Technik des Pointillismus beruht auf dem Simultankontrast von benachbarten Pigmenten. Charakteristisch für diese Art der Malerei sind einzelne, kleine Farbtupfer in reinen Farben (französisch Point: Punkt). Der Gesamt-Farbeindruck einer Fläche ergibt sich erst im Auge des Betrachters und aus einer gewissen Entfernung. Durch optische Verschmelzung und additive Farbmischung formen die Farbpunkte sich zu Gestalten.
[...]
Typisch für diesen Stil ist weiterhin der streng geometrisch durchkomponierte, oft ornamental wirkende Bildaufbau.

Rokoko

Ultra-schnörkeliger Code, wie z.B. Klassen mit expliziten Get und Set Methoden für jede Member-Variable, Anwendung aller Features der Sprache und Laufzeitumgebung, selbst an unsinnigen Stellen.

Stiltypisch sind überbordende Verzierungen, an Bauten, Innenräumen, Möbeln, Geräten usw. und vor allem die Aufgabe jeglicher Symmetrie, die im Barock noch als wichtiges Element verwendet wurde. An die Stelle fester Formen treten leichte, zierlich gewundene Linien und häufig rankenförmige Umrandungen.

Stillleben

Code, der keinerlei dynamische Elemente hat, nicht auf potentiell widrige Eingaben einzugehen muß, nicht mit dem Netzwerk redet, etc.

Unter Stillleben [...] versteht man einen Zweig der Malerei, welcher die Darstellung lebloser Gegenstände, wie toter Tiere (Wild, Geflügel und Fische), Haus-, Küchen- und Tischgeräte, Früchte, Blumen, Kostbarkeiten, Raritäten etc., zum Gegenstand hat.

Sozialistischer Realismus

Damit könnte man z.B. staubtrockenen, völlig uninteressanten Code bezeichnen, wie z.B. Business-Logik, Buchhalter-Kram, Rechnungswesen, sowas.

Der Ausdruck Sozialistischer Realismus bezeichnet eine Stilrichtung der sozialistischen Kunst, die 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU als Richtlinie für Literatur, bildende Kunst und Musik beschlossen und die später für das gesamte sozialistische System verbindlich wurde.

Surrealismus

Code aus verschiedenen konzeptionellen Ebenen wild zusammengeworfen, z.B. wenn man mitten im Parser Berechnungen und Ausgabeformatierung findet.

Die Bewegung hat also versucht das Unbewusste darzustellen, indem sie Traum und Realität miteinander verschmelzen ließ. Es werden absolut reale Dinge in völlig abstrusen Zusammenhängen dargestellt; so dass es dem Betrachter nicht mehr möglich ist zwischen Traum und Realität zu unterscheiden.

Brutalismus

Code ohne Schnörkel, ohne nette Wrapper, ohne Convenience-Interfaces.

Brutalismus ist ein Begriff der modernen Architektur. Er wurde um 1950 von dem schwedischen Architekten Hans Asplund geprägt und bezeichnet eine Architektur, welche durch reine geometrische Körper, durch Stahl und Glas und vor allem durch unkaschiertes Betonmaterial mit seinen Unebenheiten und den Abdrücken der Schalung (Béton brut) bestimmt ist.